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30 Jahre vereinigtes Deutschland im Spiegel der Bücherwelt

(Festrede anlässlich der Verleihung des Zeitgeschichte Digital Preises des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung am 5.11.2020 in Potsdam)

Wir haben in diesem Jahr den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit begangen. Die Feiern fielen coronabedingt deutlich kleiner aus als in den Jahren zuvor, aber sie hätten vermutlich ohnehin im Schatten des Großjubiläums 30 Jahre Friedliche Revolution im Vorjahr gestanden. Damit hat eine gewisse Umkehr in der öffentlichen Bewertung der Ereignisse stattgefunden. Während über viele Jahre die Aufmerksamkeit vor allem dem staatlichen Zusammenschluss vom 3. Oktober 1990 galt und im Vorfeld dazu der Fall der Mauer gewürdigt wurde, kam dem Akt der Selbstbefreiung der Ostdeutschen kaum Beachtung zu. Das wäre in den letzten beiden Jahren beinahe wieder so gewesen, denn die regierungsamtlich berufene Kommission zur Vorbereitung des Doppeljubiläums hatte den Beginn der Feierlichkeiten auf den 9. November letzten Jahres festgesetzt. Dagegen gab es diesmal laute Empörung. Denn es hätte keine Maueröffnung und kein nachfolgendes Einheitsfest gegeben, wenn nicht am 9. Oktober 1989 mit dem Massenprotest in Leipzig und den nachfolgenden Großdemonstrationen in nahezu allen Teilen der DDR die alte Macht gestürzt worden wäre. Erst der vom Volk erzwungene Rücktritt der SED-Führung und die Abdankung der Regierung haben den Weg für die anschließenden Veränderungen frei gemacht.

Dass dies nun auch im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist und die Festkommission des letzten Jahres in aller Eile noch ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm für den revolutionären Oktober auf die Beine stellen musste, hat nicht nur mit dem breiten Protest vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen zu tun, sondern auch mit den Leistungen der zeitgeschichtlichen Forschung und Publizistik, die an dem Stimmungswandel im Land durchaus einen Anteil hat.

Drei Bücher seien dafür exemplarisch genannt. Es ist die „Chronik der Wende“, deren erster Teil bereits 1990 auf den Markt kam und die dann ab 1994 vom ORB/RBB in 164 Teilen verfilmt wurde und über die Ausstrahlung in der ARD das gesamtdeutsche Publikum erreichte. Sie liegt inzwischen in 13. Auflage unter dem Titel „Finale. Das letzte Jahr der DDR“ vor. Zu nennen wäre sodann „Das wunderbare Jahr der Anarchie – Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90“, ein Band mit vielen Beispielen des Aufbruchs, der zum fünfzehnten und zum zwanzigsten Jahrestag der Friedlichen Revolution erschien. Und schließlich der Long- und Bestseller „Chronik des Mauerfalls“ des langjährigen ZZF-Kollegen Hans-Hermann Hertle, der seit 25 Jahren ununterbrochen im Angebot ist und 2019 unter dem Titel „Sofort, unverzüglich“ seine 15., erweiterte Neuauflage erlebt hat.

Bei den Einheitsfeiern der letzten zwei/drei Jahre ist ein zweiter großer Unterschied gegenüber den Jubelveranstaltungen der Jahrzehnte zuvor zu konstatieren. Nunmehr werden nicht nur die Fortschritte bei der „nachholenden Modernisierung“ des Ostens und bei der „Angleichung der Lebensverhältnisse“ zwischen Ost und West bilanziert, sondern ist auch von den anhaltenden Problemen im Vereinigungsprozess die Rede, wird auf Verwerfungen und sichtbare Defizite hingewiesen, die sich bis heute auswirken. Sieht man sich die farbigen Karten im diesjährigen Regierungsbericht zum Stand der Deutschen Einheit an, so erkennt man bei der Wirtschaftskraft, der Arbeitslosenquote, dem Haushaltseinkommen, dem privaten Vermögen oder der Altersstruktur immer wieder die alte Grenze. (Lediglich beim Breitbandausbau gibt es bisher nahezu gleiche Verhältnisse.) Auch bei der Akzeptanz der politischen Verhältnisse im heutigen Deutschland sind die Unterschiede markant.

Irgendetwas muss also in den letzten 30 Jahren nicht ganz so gelaufen sein, wie seinerzeit gedacht, erhofft und teilweise auch in Aussicht gestellt. Wo sind die Ursachen dafür zu suchen? Lagen sie im wirtschaftlich maroden und politisch diktatorischen System der DDR begründet oder sind sie vor allem auf Fehler im Vereinigungsprozess zurückzuführen, etwa auf die breite Deindustrialisierung, auf das infrastrukturelle Abgehängtsein von Regionen, die weiterhin Menschen verlieren?

Als Verleger bin ich ja grundsätzlich der Auffassung, dass es zu nahezu jeder Frage ein kluges Buch gibt und man sich nur die Mühe machen sollte, in diese mal hineinzuschauen. Schließlich sind wir das Land mit dem zweithöchsten Titelausstoß auf der Welt. Mit etwa 80.000 Novitäten jedes Jahr erscheinen bei uns etwa doppelt so viele neue Bücher wie in den USA – und das, obwohl wir bekanntlich nur ein Viertel der Bevölkerungszahl aufweisen und viel weniger Menschen auf der Welt Deutsch als Englisch sprechen. Momentan sind 2,4 Millionen deutschsprachige Titel lieferbar.

In Bezug auf unsere Ausgangsfrage, macht man bei näherer Betrachtung dieser Bücherberge allerdings eine überraschende Entdeckung. Obwohl Ostdeutschland unter Fachkollegen gemeinhin als „überforschtes“ Gebiet gilt, haben sich Wissenschaft und Publizistik in den letzten drei Jahrzehnten vorrangig auf die Entwicklung innerhalb der DDR konzentriert, also auf die Jahre von 1945/49 bis 1989. Zu diesem Themenfeld weist die Deutsche Nationalbibliothek rund 35.000 Titel aus. Zum Schlagwort Deutsche Einheit sind es dagegen nur 3.500, also genau ein Zehntel. Dies bildet sich nahezu spiegelbildlich auch bei den aktuell verfügbaren Titeln ab. Das Verzeichnis lieferbarer Bücher offeriert momentan 11.000 Titel zur DDR-Geschichte, aber nur 1000 zur deutschen Vereinigung an. Wie kommt das?

Den Fachleuten fallen natürlich sofort Antworten dazu ein. Zum einen gab es die Aufhebung aller Archivsperrfristen für staatliche Akten der DDR. Man konnte also den Staat bis in den Geheimdienst hinein minutiös untersuchen, und man hatte außerdem noch die dazugehörigen Akteure, die oft als Zeitzeugen zur Verfügung standen. Einfach perfekt für jeden Zeithistoriker. Und – nicht ganz unwichtig – es gab noch reichlich Fördermittel dazu. In der Ära Kohl war die „Delegitimierung“ der DDR bis 1998 erklärtes politisches Ziel, weshalb die Forschungsprojekte zur Herrschafts- und Unterdrückungsgeschichte wie Pilze aus dem Boden schossen. Andere Bereiche, wie etwa die Sozial- und Kulturgeschichte, wurden weniger genau ausgeleuchtet, das setzte erst – allerdings in deutlich geringerem Umfang – nach 2000 ein. Das ganze Feld der Nach-DDR-Geschichte, also der Umgestaltungsprozess Ostdeutschlands nach Vollzug der staatlichen Einheit, blieb zumeist den sozialwissenschaftlichen Kollegen vorbehalten, die im Rahmen der Transformationsforschung versuchten, als teilnehmende Beobachter die Prozesse zu begleiten und wichtige Daten zu erheben. Doch eine historische Einordnung und Bewertung steht vielfach noch aus.

Und doch gab es immer wieder auch Publikationen, die genau das versucht haben. Sie erschienen auffällig oft in einem Berliner Sachbuchverlag, der bei seiner Gründung im Herbst 1989 die Begleitung des deutschen Vereinigungsprozesses zu seinen Kernaufgaben erkoren hat. Da ich das Unternehmen seit 31 Jahren recht gut kenne, weiß ich auch um die interne Statistik dort. Sie zeigt einen deutlichen Unterschied zum Allgemeinbefund der Buchbranche. Unter den 480 Titeln des Hauses, die Ostdeutschland zum Gegenstand haben, beschäftigen sich 120 mit den Veränderungen seit der Vereinigung von 1990, es sind also 25 statt der sonst üblichen 10%. Ein Teil davon erschien zu den markanten Jubiläen, um der offiziellen Sichtweise einen kritischen Blick entgegenzusetzen. Auch hier seien drei Titel stellvertretend genannt.

Zum 15. Jahrestag der Deutschen Einheit legt der Ch. Links Verlag den Sammelband „Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – Eine Zwischenbilanz“ vor, in dem Zeithistoriker wie historische Akteure zu erklären versuchten, warum eine selbsttragende Wirtschaft in den neuen Bundesländern nicht in Sicht war und über Jahre noch erhebliche Transferleistungen erforderlich seien.
Zum 20. Jahrestag gab es dann einen Perspektivwechsel. In „Zukunft erfinden – Kreative Projekte in Ostdeutschland“ wurde gezeigt, dass es im Osten nicht nur Frust gab, sondern auch eine Vielfalt inspirierender Vorhaben. Dieses Buch erwies sich dann auch als Initialzündung für das „Neulandgewinner“-Programm der Robert Bosch Stiftung, das im nächsten Jahr bereits in die fünfte Förderrunde geht.
Nun, zum 30. Jahrestag, ist das „Jahrbuch Deutsche Einheit“ mit seinem ersten Band an den Start gegangen. Fortan werden hier alljährlich neue Erkenntnisse der zeitgeschichtlichen Forschung zu den Veränderungen im Land zu lesen sein. Natürlich sind auch hier wieder Zeithistoriker des ZZF dabei, und natürlich wird auch über den Tellerrand geschaut, geht es doch längst um die Einbettung der deutschen Vorgänge in Ost und West in internationale Zusammenhänge.

Unabhängig von diesen großen Jubiläumseditionen und Reihenwerken, wie etwa „Kommunismus und Gesellschaft“ aus dem renommierten Potsdamer Zentrum, erscheinen bei uns weiterhin Einzelausgaben, die sich besonderen Themen des deutsch-deutschen Zusammenlebens widmen. Abermals sei hier auf drei Publikationen verwiesen.
Vor zwei Jahren stellten die Journalisten Tanja Brandes und Markus Decker die These auf „Ostfrauen verändern die Republik“. Sie gingen in 23 Porträts der Frage nach, warum Ostfrauen nach wie vor häufiger berufstätig sind als Westfrauen, nach der Geburt eines Kindes früher auf Vollzeitstellen zurückkehren und neuerdings auch stärker in der Politik mitmischen. 2017 gab es unter den Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl vier Frauen – sie kamen allesamt aus dem Osten.
In diesem Jahr haben die Politikwissenschaftler Michael Wedell und Georg Milde unter dem Titel „Avantgarde oder angepasst?“ eine Bestandsaufnahme der Grünen vorgelegt, worin es unter anderem darum geht, wieviel Osterfahrung von Bündnis 90 eigentlich noch in der aufstrebenden Mittelstandspartei steckt.

Und schließlich ist da noch ein Fotoband zu nennen, der ein ganz besonderes Kapitel der deutschen Vereinigungsgeschichte behandelt – und zugleich etwas mit dem heutigen Abend zu tun hat, denn nachher gibt es ja noch die Ausstellungseröffnung dazu. „Traum und Trauma“ heißt das Buch. Darin geht es aus unterschiedlichen Perspektiven um die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße kurz nach der ersten Feier zur deutschen Einheit im November 1990 in Ost-Berlin. Der Band, mitherausgegeben von drei Kollegen des ZZF, macht deutlich, wie schwer es auch nach 30 Jahren noch sein kann, den Abläufen und den zugrunde liegenden Handlungsmotiven markanter historischer Ereignisse auf die Spur zu kommen. Sie haben oft Auswirkungen bis in die Gegenwart, wie bei den jüngsten Auseinandersetzungen mit der Hausbesetzerszene deutlich wurde.

All diese Bücher und die vielen begleitenden Veranstaltungen tragen hoffentlich mit dazu bei, dass dem Prozess der deutschen Einheit in Zukunft mehr publizistische und politische Aufmerksamkeit geschenkt wird, als dies bisher der Fall war. Wenn es in zehn Jahren eine neue Bilanz zu ziehen gilt, ist die Zahl der Veröffentlichungen über 40 Jahre Deutsche Einheit hoffentlich genauso groß wie jene über 40 Jahre DDR-Geschichte. – Es würde gewiss nicht nur den Verleger sehr freuen.